Sallaumines Fosse 4 Erinnerungen an meinen Freund Heinz |
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Nachdem meine zweite Flucht aus französischer Kriegsgefangenschaft mißlang, wurden wir im August 1946 mit einer Gruppe von ca. 15o Mann in einem geschlossenen Güterwagen von Rouen/Toubize im Norden Frankreichs, nach Lens-Mericourt Departement Pas de Calais strafversetzt (dort waren viele Kohleminen). Es war ein Kriegsgefangenenlager mit über 40 Baracken. Mein Kamerad Heinz Dreeßen aus Mönchengladbach, den ich in Rouen kennengelernt hatte, und ich wurden der Baracke Nr. 23 zugeteilt. Dort waren wir mit 60 Mann und tausenden Wanzen. Wir schliefen in dreistöckigen Holzgestellen auf Stroh. Außerdem hatten wir auch noch unsere eigenen Läuse - und Hunger. Der Aufenthalt in der Baracke war nur unter der Voraussetzung möglich, daß in 3 Schichten gearbeitet wurde. Alle 60 Leute zusammen hätten dort nicht hineingepaßt - oder nur in ihren Betten. An einem Ende der Baracke stand ein Kanonenofen, damit wir im Winter heizen konnten. Nachdem wir wußten, wo unsere Betten waren, wurden wir in einen Sammelraum in der Nähe der Küche geführt. Die Lagerbewachung waren Marokkaner. Hier stellte man uns vor die Wahl, uns für die Legion Etrange zu entscheiden (Fremdenlegion und satt zu essen) oder unter Tage Kohle zu machen. Wir entschieden uns für den Pütt, was die meisten taten. Die Kommission bestand aus französischen Offizieren. Sie hätten gerne mehr Leute für ihre Legion nach Indochina gehabt, aber wir glaubten alsbald aus der Kriegsgefangenschaft entlassen zu werden. Heinz und ich wurden im Laufe der Zeit dicke Freunde. Gegen Abend bekamen wir dann etwas zu essen (Fußlappensuppe). Sie bestand aus Wasserbrühe und Kappesblättern. Es waren auch etwas Fleischfasern drin, ansonsten geschmacklos. Ich erinnere mich, ein Mann unserer Baracke hatte Monate danach einmal ein Stück Seife in seiner Suppe gefunden - das am Rande. Dann stiegen wir in die Schlafkisten, und dann kamen die Wanzen. Mein Freund Heinz, der als amerikanischer Kriegsgefangener in Le Havre statt in Hamburg mit einem Liberty Schiff landete und von den Franzosen zum Arbeitseinsatz in Frankreich festgehalten wurde, und ich wurden auf Frühschicht eingeteilt und mußten mit anderen Kameraden um 6 Uhr vor dem Lagertor abmarschbereit Richtung Sallaumines Schacht 4 antreten. Wir wurden abgezählt in Gruppen eingeteilt. Dann marschierten wir, ca. 60 Leute, in sechser Reihen, bewacht von vier oder fünf marokkanischen Soldaten, die einen Karabiner trugen, ca. 15 Min. bis zur Zeche. Zwischendurch wurde auch schon mal ein Laufschritt eingelegt. In der Zeche angekommen gingen wir zur Waschkaue. Dort standen Blechschränke. Davor waren Holzbänke. Der Duschtrakt wurde durch einen Gang getrennt. An den Bänken mußten wir unsere Kleidung ablegen und Arbeitszeug anziehen. Unsere Klamotten für unterwegs legten wir auf die Holzbank. Die Blechspinde waren von den französischen oder polnischen Kumpels belegt. Erst viele Monate später bekamen wir zu zwei Kriegsgefangenen auch ein Spind, so daß unsere Kleidung nicht mehr so offen herumlag. Aber wir hatten ja auch keine Wertsachen. Danach gingen wir an die Lampenausgabe (Lampiserie). Alles unter marokkanischer Bewachung. An der Ausgabe standen für uns bildhübsche junge Mädchen. Wir erhielten von ihnen numerierte Lampen, wobei die Nummern auch gleichzeitig unsere Namen waren. Mit dieser Nummer wurden wir auch untertage von Steigern und Hauern angesprochen. Diese Nummer (1559) war für 20 Monate auch mein Name. Die Nummer meines Freundes war 1564. Wir bekamen den Steiger zugeteilt (Monsieur Peku), und gingen zur Werkzeug-Ausgabe. Pro Mann gab es einen Preßlufthammer mit Schlauch, ein Beil, eine Schaufel mit kurzem Stiel und eine Handsäge. Schutzhelme hatten wir Kriegsgefangene nicht. Für uns genügte ein Stoffkäppi. Die Schutzhelme, die von den französischen Kumpeln getragen wurden, waren aus hart gepreßtem Leder und hatten die Form von spanischen Hüten. Nur der Rand war nicht so breit. Unser Schuhwerk waren einfache Espadrills, Leinenstoff mit Sisalsohlen. Dann kam der Hauer und führte unsere Gruppe vor Ort. Er hieß Romano und war in Sizilien geboren, wie er uns später sagte. Ein harter Kerl, aber man mußte ihn zu nehmen wissen, wie ich dann auch später feststellte. Wir gingen in Richtung Förderturm. Auf der Treppe bekam ich ein flaues Gefühl in der Magengegend. In dem Förderkorb waren zwei Ebenen. Beide Ebenen wurden mit Leuten vollgestopft. In jeder Ebene waren ca. 15-20 Mann. Ich war in der oberen Hälfte. An der Schiebetür (Winkeleisen mit Maschendraht) stand außen ein Mann. Er zog an einer Glocke, und es ging mit sagenhafter Geschwindigkeit hinab in den Schacht. Das Gleitgeräusch von den Spurbalken habe ich heute noch im Ohr. Seitlich der Spurführung hingen auf beiden Seiten zwei übermächtige Zahnsegmente. Sie sollten im Falle eines Förderseilrisses den Korb im Schacht verklemmen - habe dem aber nie so getraut. In ca. 30 Sekunden waren wir auf der dritten Sole. Man sagte, es wären ca. 700 Meter. An der Hauptstrecke, wo der Korb hielt, wehte ein richtiger Wind, und ich sah das erste Pferd untertage. Es zog einige Loren voll Kohle hinter sich hoch. Die Loren rollten auf Schienen zum Schacht. Arme Sau, das Pferd. Es sieht nie das Tageslicht wurde uns gesagt. Eine Gruppe von 10 Gefangenen, darunter mein Freund Heinz und ich, gingen mit Romano ca. 10 -15 Minuten auf Strecke bis zu einem Kohlestreb. Unser Werkzeug mußten wir selber schleppen. Am Streb angekommen hörten wir schon das Hämmern und Bohren aus einem Stollen. Dort mußten wir hinein und gingen in gebückter Haltung ca. 30 bis 40 m bis an einen verbauten Ort. Die Höhe war dort ca. 1.60 m. Das Geräusch war jetzt so stark, daß man kaum sein eigenes Wort verstand, weil seitlich in dem Stollen eine Rutsche installiert war, die mit Preßluft betrieben wurde und ein knallendes stoßendes Geräusch verursachte. Dort durften wir uns auf den Boden setzen, und Romano gab uns die ersten Instruktionen über das Verhalten bei der Arbeit vor Kohle. Da wir schon über ein Jahr in französischer Kriegsgefangenschaft waren, konnten wir sein Französisch gut verstehen. Heino Beutgen, ein Musiker aus Bremen - hervorragender Gitarrist - saß mit seinem Rücken an einem Stempel. (Das waren Holzstämme aus Fichten oder Tannenholz zum stützen der Flözdecke, die bei hohem Druck von oben ein brechendes splitterndes Geräusch von sich gaben.) Als dieser plötzlich anfing zu krachen, sprang er auf und wollte aus dem Stollen rennen, aber Romano, er war fit, schnell und stark, hatte ihn schon am Nacken und zerrte ihn wieder zurück auf den Boden. Er war in Panik geraten und brüllte voller Todesangst "Ich will hier nicht sterben". Wir anderen Kriegsgefangenen waren auch davon etwas mitgenommen . Später haben wir oft darüber gelacht. Dann bekamen wir von Romano unseren Abschnitt Kohle zugeteilt: 3 mal 1 mal 1.60 m. Mein Freund Heinz und ich blieben zusammen, schlossen den Preßlufthammer (Piqueur) an eine Rohrleitung an, die längs des Stollens entlang lief. Einer bohrte Kohle, der andere schaufelte sie auf die Rutsche (Couloir), so wie Romano uns das erklärt hatte. Von dort rutschte die Kohle in eine Lore, die auf der Strecke etwas weiter unten stand. Bei dieser Arbeit habe ich das erste Mal in meinem Leben gedacht "Ein Glück, daß du so klein bist". Auch für meinen Freund Heinz traf das zu. Und immer wieder hörten wir Romano, der schnellen Schrittes an uns vorbei ging sagen: "Vite Vite Vite casse charbon. Pas repose." Hier unten war es sehr warm. Wir schwitzten, zogen die Jacken aus und arbeiteten mit freiem Oberkörper. Romano half uns beim Verbauen und Abstützen des von Kohle abgebauten Strebes. Aber in der ersten Schicht schafften wir mit zwei Mann nicht unser vorgegebenes Pensum. Die Schicht war beendet, als die Preßluft abgestellt wurde und drei Klopfgeräusche an dem Preßluftrohr zu hören waren. Eine Uhr hatten wir nicht. Das Werkzeug trugen wir mit bis an den Schacht. Dort wurde es bis zum nächsten Tag in einem Verschlag abgelegt. Romano verwaltete alles, bis auf die Lampen, die mußten nach dem Ausfahren wieder an dem Lampenschalter zur Vorbereitung für den nächsten Tag abgegeben werden. Dort standen wieder die hübschen Mademoiselles und nahmen sie in Empfang. Unsere Nummern standen auf der Lampe. Dann gingen wir zum Duschen in die Waschkaue. Im Gesicht waren wir schwarz. Nur die Augen konnte man erkennen. Die Duschzeit war kurz, das Wasser lauwarm. Die Wachposten liefen in der Kaue herum und trieben uns zur schnelleren Bewegung an. Dabei klopften sie uns auf den nackten Hintern 'nicht allzu fest'. Ich glaube, viele von ihnen waren schwul . Nachdem wir unsere Kleidung gewechselt hatten, stellten wir uns unterhalb der Waschkaue in Reihen auf den Hof der Zeche und wurden abgezählt. Wenn die Anzahl der Kriegsgefangenen stimmte, marschierten wir durch ein großes Eisentor nach draußen zurück ins Lager. Die Frühschicht, ca. 20 Mann unserer Baracke (wir waren alle ausgemergelt), konnte sich nun in der Lagerküche ihre Suppe abholen. Wir hatten Kohldampf, und mir schmeckte die Suppe nicht. Meinem Freund Heinz ging es ebenso. Unser Eßgeschirr war ein Emailletopf, ca. 1 Liter Inhalt, mit zwei kleinen Henkeln. Ich aß ein Paar Löffel und suchte nach Fleischfasern, wurde aber nicht fündig und gab den größten Teil meiner Suppe einem Kameraden, der mit uns auf Schicht war. Sein Name war Franz Reich, auch einer, der von den Franzosen in Le Havre an Land gezogen wurde und dann über die Déminage Fécamp ins Bergwerk mußte . Die Bekleidung der Kumpels, die aus Amerika kamen, bestand meistens aus Eisenhower Jacken sowie Hosen, und auf dem Rücken der Jacken war ein großes PW gemalt. Unsere Jacken, Blusen oder Hemden waren mit einem PG gekennzeichnet und waren alte Uniformen aus der französischen Armee. Franz Reich war sehr musikalisch, liebte Glenn Miller und Harry James, Louis Amstrong, Xawir Ghugath, besaß einen sehr guten Appetit und war ein echter Hamburger. Sein Eßgeschirr war eine leere amerikanische Milchpulverbüchse (eine Gallone Inhalt). Sie war meistens voll Suppe, die er auch wegputzte. Er kam auch von der Déminage aus Fécamp und war meistens immer guter Laune. Alle PWs, die in Frankreich an Land gezogen wurden, waren alte Afrika Kämpfer und kamen aus Wisconsin oder Louisiana USA. Im Gegensatz zu uns hatten sie wertvolle Sachen bei sich. Diese konnten sie in Amerika von ihrem Lohn kaufen. Die meisten arbeiteten dort in Zuckerrohr oder in Baumwolle und wurden schon 42/43/44 in Afrika gefangen genommen und nach Amerika verschifft. Auch mein Freund Heinz war Afrikakämpfer. Die Franzosen filzten ihnen viele Sachen, unter anderem Schmuck, Seife, Uhren, Goldkettchen, Medaillons, Parfum usw.. Jede Baracke hatte einen Baracken- Ältesten. Unserer hieß Karl - den Zunamen habe ich vergessen - ehemaliger Maat der Kriegsmarine, ein prima Kerl. Er war schon länger im Lager, seit Ende 1945, war auch aus Hamburg, und er kannte später auch alle Barackenangehörigen mit Namen und Nummern. Karl hatte einen privilegierten Posten, brauchte nicht untertage zu arbeiten, war aber verantwortlich für die kalte Verpflegung der 60 Leute in unserer Baracke. Die Verpflegungskategorien 1,2,3 der einzelnen Leute waren ihm bekannt. Auch andere Sachen erledigte er, wie z.B. Post, Krankmeldungen usw.. Auch kehrte er den Bretterboden der Baracke, und vor der Eingangstüre mußte alles tipptopp sein. Er weckte die Leute der einzelnen Schichten zum Abmarsch in die Mine. Kurzum, er war Mädchen für alles. WCs gab's in den Baracken nicht. Sie lagen etwas abseits der Unterkünfte. Es waren 24 Hocker (Rücken an Rücken), keine Griffe zum festhalten, und es liefen immer Ratten umher. Von diesen WCs gab es mehrere, denn wir waren ja mit einigen tausend Kriegsgefangenen in diesem Lager mit 4 Wachtürmen und Stacheldraht-Umzäunung. Nachts brannte immer Licht. Unser französischer Lagerkommandant hieß Monsieur Lecart oder so ähnlich und lief meistens in Zivilkleidung umher. Jeder machte einen Bogen um ihn, denn er war sehr verhaßt, weil er sich immer neue Schikanen ausdachte und schlechtere Bedingungen für uns Kriegsgefangene im Lager Mericourt schuf - vor allem was Verpflegung anbetraf. Er hatte nur Ökonomie im Auge. Seit August 1946 war ich nun vor Kohle. Jetzt ging es langsam auf den November zu. Mein Freund Heinz 1564 und ich 1559 waren immer noch zusammen, hatten Verpflegungs-Satz Kategorie 2, weil wir nun schon Erfahrung im Kohle-Abbau hatten, er der Hauer, ich der Schlepper oder umgekehrt. Unser Bestreben aber war, in die Kategorie 1 zu gelangen. Das war schwierig, und man mußte überdurchschnittliche Leistung im Kohleabbau bringen. Dazu gehörte auch das selbständige Verbauen des abgebauten Strebes mit einem Roulong, aber das konnten wir noch nicht und mußten dafür Romano rufen. Trotzdem war er mit uns zufrieden, denn wir verbauten die Spitzen selbst. Das sind dünne Holzpfähle. Und er lobte uns auch schon mal, weil wir versuchten den Roulong ohne ihn zu setzen. Ein Roulong ist ein Baumstamm, ca. 3m lang 25 - 30 cm Durchmesser, Gewicht etwa 30 kg und wird mit Holzstempeln zur Abstützung des Hangenden verbaut. Im Laufe der Zeit kamen wir zum Abbau der Kohle in alle möglichen Strebe der dritten Sohle. Mal war die Höhe nur 1 m hoch mit Störungen von nur 50 cm. Dort mußten wir auch abbauen. Ein andermal arbeiteten wir in Saalhöhe. Dort wurden an Stelle von Stempeln im Verband gelegte quadratische Schwellenhölzer bis an das Hangende gelegt - eine Scheißarbeit. Hydraulische Stempel kannten wir nur vom Hörensagen von echten Kumpels aus dem deutschen Pütt. Im November 1946 konnte ich die erste Postkarte an meine Großmutter schicken. Sie war meine Bezugsperson während des Krieges - im Falle mir würde etwas zustoßen. Sie wohnte in Kerpen. Mein Vater war Soldat und meine Mutter mit drei jüngeren Geschwistern evakuiert, aber keiner wußte vom anderen bescheid. Anfang 1947 bekam ich dann eine Antwort von meiner Großmutter. Sie teilte mir mit, daß mein Großvater verstorben sei. Das stimmte mich sehr traurig. Im Frühjahr 47 - wir kamen von der Frühschicht - wurde uns von unserem Barackenältesten Karl mitgeteilt, daß die Verpflegung besser werden und wir auch Lagergeld erhalten sollten. Wir hielten es für eine Scheißhausparole. Dennoch traf alles zu, denn eine Kommission der Y M C A hatte sich auch in dem Lager Depot 15 b Mericourt angemeldet - übrigens die Einzigen die sich nach der Kapitulation um uns kümmerten - aber es war ja damals ein Chaos. In relativ kurzer Zeit war im Lager alles anders organisiert. Wir bekamen gute Suppen, Linsen, Bohnen, Erbsen mit Einlagen, auch mal Brühwurst in der Suppe. Es wurde Kino vorgeführt, alte amerikanische und deutsche Filme. Dazu mußten wir unsere Bänke aus der Baracke mitnehmen, um einen Sitzplatz zu haben. Das Ganze spielte sich in dem Barackenraum neben der Küche ab. Wir bekamen eine Fußballmannschaft, eine Boxstaffel, besinnliche Stunde, Lesungen, Theatervorführungen - alles von PGs organisiert und auch von ihnen ausgeführt Außerdem hatten wir eine hervorragende Lagerband unter Leitung von Heinz Igel, Klarinettist, Liebling von Lecart (franz. Lagerkommandant). Anmerkung: Anfang der 60er Jahre spielte Heinz Igel hier in Köln in einem Jazzkeller auf dem Kaiser Wilhelm Ring. Zur Kriegsgefangenenbetreuung kam auch ein Sänger (Tenor) in unser Lager - auch einer von uns - war aber nicht aus unserem Lager, auch kein Profi. Er hat zweimal bei uns gesungen, und zwar ein Lied aus einer Operette ('In deinen Augen steht es geschrieben.' Statt 'Augen' sang er 'Aujen'. Seine Stimme war gut. Es war aber trotzdem zum Heulen. Er war eben ein Amateur. So wurde dann auch für Kurzweil im Lager gesorgt. Eine Theatergruppe aus dem Lager Lievin spielte bei uns Boulevard-Theater. Sie hatten hübsche graziöse Frauen in ihrer Gruppe - alles Männer - man hätte sich in sie verlieben können. All diese Events spielten sich nur Sonntags ab - auch eine heilige Messe. Fußball und Boxen waren die beliebtesten Sportarten in unserem Lager, vor allem von uns jungen Kriegsgefangenen. Die meisten waren so zwischen 21 und 25 Jahre alt. Es wurde in fast allen Gewichtsklassen geboxt, und die Kämpfe fanden meist Lager gegen Lager statt. Depot 15 Lens hatte mehrere untergeordnete Lager. Davon sind mir noch aus der Erinnerung die Lager Fouquieres, Henin und Liévin bekannt. Einige Namen der Boxer waren Dittschreit, Heise, Buchstaller, Scharlach und noch andere. Die marokkanische Wachmannschaft war als Zuschauer stark vertreten und mit dem Anfeuern nicht zimperlich. Das alles begann ab Frühjahr 1947. Etwas später wurde dann Lagergeld eingeführt, und wir konnten uns zusätzlich Lebens- und Genußmittel, unter Anderem Tabak, Zigaretten, Zigarettenpapier, Wein, Feuerzeuge, Feuersteine und noch andere Luxusartikel kaufen. Sogar Radios kamen jetzt ins Angebot. Sie waren sehr teuer. Es waren relativ kleine Empfänger. Karl, unser Barackenältester machte den Vorschlag, Geld zu sammeln und für Baracke 23 ein Radio zu kaufen. Das war eine gute Idee. Von nun an konnten wir Nachrichten, Sportberichte und Reportagen von Fußballklubs aus Deutschland hören. Für uns tat sich eine Welt auf. Am Wochenende hörten wir Tanzmusik, BBC oder Rias Berlin. Wir tanzten unter uns Kriegsgefangenen, und es bestand unter den Pärchen eine enge Verbundenheit. All das löste ein großes Heimwehgefühl aus, aber aus der Kriegsgefangenschaft entlassen zu werden, daran war nicht zu denken. Auch waren spezielle Jazzsendungen im Sendeangebot. Ich erinnere mich an zwei Jazzexperten, die mit ihrem Ohr halb im Empfänger hingen. Einer hieß Julius Becke, kam aus Leipzig, und seine Eltern hatten mit dem Pianohaus Prein in Köln zu tun. Ich kannte es aus meiner Jugendzeit es war in der Zeppelin- oder Richmodis Str. am Neumarkt. Der andere Kumpel war von Baracke 24, hieß Rudi Mühlfenzl und war im Frankfurter Raum zu Hause. Nach der Kriegsgefangenschaft wurde er Korrespondent einer Zeitschrift und Reporter, heiratete später die damals sehr bekannte Schauspielerin Kamilla Horn. Heinz, Julius, Rudi und ich betranken sich nach einer Jam-Session, die wir in unserem Radio hörten, so stark, daß wir alle aus dem Barackenfenster gekotzt haben - aus Übermut - wer verträgt am meisten. Das sei nur am Rande erwähnt. Trotz all dieser Lockerungen im Lager blieben die Wanzen in unseren Betten, und die Arbeitsschichten im Pütt dritte Sole gingen weiter. Auch das Heimweh wurde noch stärker. Wir wollten alle nach Hause. Viele PGs aus unserem Lager ergriffen die Flucht. Auch Heinz 1564 und ich 1559 befaßten uns mit dem Gedanken . Aber das Risiko war sehr hoch. Wer wieder geschnappt wurde kam ins selbe Lager zurück, eine Glatze wurde ihm geschnitten, man kam 30 Tage in ein Zelle am Rande des Lagers unmittelbar neben den Unterkünften der Wachposten und man mußte bei gleicher Verpflegung 2 Schichten hintereinander einfahren. Der Gedanke an eine Flucht war aber für uns nicht vom Tisch . Eines Tages sprach mich Romano unter Tage an: "1559 und 1564 ihr seid gute Mineure. Ich gebe euch einen Job am convoyeur." Das war eine Strecke, ca. 80m mit 2 Wettertüren, wo Laufbänder liefen, die voll mit Kohle bepackt waren und diese in bereitstehende Loren beförderten. Die Laufbandstrecke hatten wir sauber zu halten, weil durch die Wettertüren oder die für das Laufband vorgesehenen Schlitze immer wieder Kohlestücke von dem Band fielen, die dann wieder auf geschaufelt werden mußten. Romano kam öfters durch den convoyeur gelaufen und sagte: "Bien propre 1559, ton Kamerad 1564 aussi." Dafür bekamen wir Kategorie 1 bzw. entsprechende Entlohnung in Lagergeld. Es war für mich und Heinz der tollste Job Untertage, und es war keine große körperliche Arbeit damit verbunden, obwohl das Geräusch der Preßluftmotoren für die Laufbänder stark auf unsere Ohren ging. Trotzdem hörten wir heraus, wenn Kohlenstücke herunter fielen, um sie dann wieder aufs Band zu schaufeln. Wenn Schichtwechsel war, blieben die Bänder stehen und man vernahm 3 Schläge am Preßluftrohr. Nach der Schicht waren wir nicht mehr schwarz im Gesicht, denn im convoyeur war ganz wenig Kohlenstaub und ein gutes Wetter. Geschwitzt haben wir auch nicht. Bei dieser Arbeit konnten mein Freund Heinz und ich viel Kraft schöpfen. Mittlerweile war das Frühjahr 1947 voll im Gange, und einige Kumpel kamen - in Anbetracht der besseren Ernährung - auf für uns ausgefallene Ideen. Es waren gelernte Bäcker. Sie sammelten von jedem ein Stück Brot, weichten es auf, formten daraus Tortenböden, kochten in alten Milchpulverdosen auf dem Kanonenofen Vanille Pudding und machten aus dem ganzen Mitschmatsch eine fürs Auge vorzügliche Margarinekrem Torte. Sie schmeckte wunderbar. Nur der Zucker knirschte zwischen den Zähnen, weil er nicht aufgekocht war. Das nahmen wir aber gerne in Kauf - war mal ein anderer Geschmack und erinnerte an zu Hause. Die Tage wurden jetzt länger, aber nachts piesackten uns immer wieder die Wanzen. Beim kaputtschlagen des Ungeziefers breitete sich immer ein Gestank aus. ein probates Mittel gegen die Wanzen hatten wir nicht. Im April 47 es wurde langsam wärmer. Nach der Frühschicht kam ein LKW mit Holzteilen in die Nähe unserer Baracke, aus dessen Tank Dieselöl tropfte. Wir fragten den Fahrer, ob wir die Tropfen auffangen dürften, um unsere Bettgestelle damit einzureiben. "Ah Punaise (Wanzen), ich weiß", sagte er und goß aus seinem Reservekanister für uns eine alte Milchpulverdose voll Diesel-Kraftstoff. Am Wochenende - es war schönes Wetter - haben wir alle Klamotten außerhalb unserer Baracke gestellt und sämtliche Ritzen an Bettgestellen und Baracke mit Diesel ausgepinselt. In der Nacht stank es sehr penetrant nach Sprit. In dieser und den darauffolgenden Nächten aber spürten wir keine Wanzen mehr. Im Lager sprach sich die wirkungsvolle Methode mit dem Dieselöl rund, und danach wurde auch nicht mehr viel über Wanzen geredet. In Anbetracht des warmen Frühjahrs waren aus dem Sand vor unserer Baracke Flöhe zu uns übergesiedelt. Sie waren im Vergleich zu Wanzen harmlos. Dank der speziellen Fangtechnik, die wir an unserem Körper entwickelten, wurden wir gut mit ihnen fertig. Man merkte, wenn sie zum Blut saugen, meistens an Armen und Beinen einstachen. Blitzschnell waren sie mit vier Fingern zu ertasten und wurden gefriemelt, das heißt hin und her gerollt. Dann konnte man sie fassen und zwischen den Daumennägeln zerquetschen. Über zwei Jahre waren wir nun schon in Kriegsgefangenschaft, davon fast ein Jahr im Kohlebergwerk, und hatten unter härtesten Bedingungen gearbeitet. Aussicht auf Entlassung bestand nicht. Es hieß, "Ihr müßt wenigstens 5 Jahre noch im Pütt bleiben, bis eure Reparationskosten bezahlt sind." Inzwischen hatte in Frankreich nach De Gaulle schon mehrere Präsidenten gewechselt. Auch wurde vom neuen Franc gesprochen, aber die Franzosen zeigten der Regierung durch hartnäckige Streiks wo's lang ging. Französische Bergleute verweigerten die Arbeit, wovon wir Kriegsgefangene profitierten, weil wir nicht Untertage arbeiten konnten. Ich erinnere mich unter Anderem an einen Generalstreik, der drei Wochen dauerte, an dem wir jeden Morgen unter militärischer Bewachung zum Schacht gingen. Am Eingang der Zeche standen zivile Streikposten mit geschulterten Karabinern, die uns ins Lager zurückwiesen. Unsere Bewachung folgte den Anweisungen, und auf dem Weg zurück ins Lager war unter uns Kriegsgefangenen Freude angesagt. Es war ein wohltuendes Gefühl, weil wir wußten, daß uns die ganze Zeit während des Streiks Freizeitangebote gemacht wurden, hauptsächlich Kino. Dadurch verhinderte man wahrscheinlich Aufruhr im Lager. Inzwischen bekam ich aus der Heimat mehrere Post, darunter waren Briefe mit Bildern von meinen Cousinen, die in Köln schon eine Tanzschule besuchen konnten und mich als armes Schwein zu trösten versuchten. Das erweckte in mir erneut ein starkes Heimweh, und ich befaßte mich wieder mit einem Fluchtplan, von dem ich Heinz erzählte. Auch er war damit einverstanden, auf Achse zugehen. Unser Radio in der Baracke brachte jeden Tag Nachrichten auch aus Deutschland, aber was uns Kriegsgefangene anbetraf, gab es keine Neuigkeiten. Am Wochenende spielten wie gewohnt BBC oder RIAS, abends wieder Tanzmusik, an der wir aktiv teilnahmen, aber uns fehlten die Partnerinnen. Wir tanzten wieder unter uns. Im Juli 1947 - der Streik war schon eine Zeitlang beendet - faßten Heinz und ich den Entschluß, aus dem Lager abzuhauen. Zu dieser Zeit aber waren hunderte von deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich unterwegs und wollten nach Hause. Der Garde-Mobile, einer französischen Polizeitruppe, das wußten wir von PGs, die geflüchtet waren, und die man wieder geschnappt hatte, sollte man besonderer Aufmerksamkeit widmen. Sie gingen hart vor. Außerdem war für jeden erwischten deutschen Kriegsgefangenen bei der französischen Zivilbevölkerung ein Kopfgeld ausgesetzt. Trotzdem waren das Heimweh so groß und der Tag der regulären Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft für uns so fern, daß unsere Flucht fest beschlossene Sache war. Am Tage, als es dann losging, Ende Juli, es war herrliches Sommerwetter, gingen wir wie gewohnt begleitet von den Wachposten zur Frühschicht. Nach Beendigung der Schicht gingen wir nicht zum Schacht, sondern blieben so lange untertage, bis die Spätschicht beendet war. Dazu setzten wir uns in einen stillgelegten Stollen. Dann fuhren wir nach oben und brachten unsere Lampen in die Lampisrie. Stark verschmutzt waren wir nicht. Unser Job Untertage war relativ sauber. Statt in die Waschkaue zu gehen, wo auch unsere Wachposten waren, gingen wir schnellen Schrittes zum Holzplatz, dort wo die Grubenhölzer in Stapeln bis zu drei Metern Höhe lagerten. Es war schon dämmrig, und man konnte sich gut verstecken. Als es dunkel war gingen wir von dort etwa drei Kilometer nach Billy-Montigny. Dort wurden Güterzüge voll beladen mit Kohle zusammengestellt, die dann meistens in Richtung Elsaß Lothringen fuhren. Das Umfeld an den Gleisen war hell erleuchtet. Das Zischen der Dampflokomotiven war ein Zeichen, daß jetzt bald ein Güterzug mit Kohle beladen abfuhr. Wir warteten, bis ein Zug sich in Gang setzte. Dann sprangen wir auf einen der hinteren Waggons, und es ging in Richtung Douai-Valenciennes. Zunächst waren wir happy, daß wir das schon mal geschafft hatten, aber im Güterbahnhof Valenciennes hielt der Zug an und stand zunächst auf einem für uns erkennbaren Abstellgleis. Die Lok wurde abgehängt. Heinz und ich entfernten uns erst einmal von dem Zug, weil einige Bahnarbeiter entlang des Zuges gingen und sich eifrig unterhielten. Wir wußten nicht ob uns einer von ihnen gesehen hatte. In der Nähe des Güterbahnhofs standen viele Bäume und Sträucher. Darin war unser Versteck, und man konnte von dort auch die mit Kohle beladenen Güterzüge beobachten. Es war ein sternklarer Nachthimmel und nicht kalt. Das Sternbild des Orion hatten wir direkt vor unserer Nase. Auch der Polarstern, der uns oft bei nächtlichen Fußmärschen die Richtung zeigte, war ganz klar zu sehen. Mit dem Hunger war es auch nicht so schlimm. Wir hatten untertage Butterbrote aus den Musettes anderer Bergleute organisiert, während die Kumpel vor Kohle arbeiteten, die uns dann als Marschverpflegung dienten Bis zum Morgengrauen dösten wir vor uns hin, bis ein Pfeifgeräusch einer Lok uns aufhorchen ließ. Ein Zug stand schon unter Dampf. Wir liefen zu den Gleisen, und ein Güterzug voll beladen mit Kohle setzte sich in Bewegung. Wir konnten gerade noch so auf einen der letzten Waggons springen, und ab ging es in südlicher Richtung. Immer wieder hielt der Zug unterwegs an. Wir verkrochen uns in eine Ecke des Waggons, um nicht von oben gesehen zu werden. Das Streckennetz der SNCF, der französischen Eisenbahnen, war zu der Zeit noch ziemlich desolat. Gegen Abend landeten wir wieder auf einem Verschiebebahnhof. Meiner Erinnerung nach muß er Berntieres oder so ähnlich geheißen haben. Hier wurden die Waggons abgehängt und einer anderen Strecke zugeteilt. Heinz und ich wurden hier ungewollt getrennt, weil der Eine rechts und der Andere links des Gleises abgesprungen war. Es hetzten französische Bahnarbeiter umher. Sie kuppelten verschiedene Waggons an oder ab, um neue Züge zusammenzustellen. Heinz hatte ich aus den Augen verloren und fand mich schon damit ab, ohne ihn weiter fahren zu müssen. Nach fast einer halben Stunde sah ich zwischen den Rädern eines Waggons am übernächsten Gleis ein paar Beine huschen. Es waren die von Heinz. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich rannte ihm nach. Wir hatten uns wieder gefunden. Auch dieser Güterbahnhof war von oben mit Scheinwerfern hell erleuchtet. Ein paar Gleise weiter sahen wir einen Güterzug, dessen Wagen mir von Deutschland bekannt waren. Sie bestanden ganz aus Blech und verjüngten sich nach oben. Als Kinder sagten wir: 'Spanische Wagen'. Sie waren voll mit Koks beladen und am Unterboden durch eine Kurbel zu öffnen, damit der Inhalt nach unten entladen werden konnte. Seitlich auf der Deklarations-Bestimmung stand 'Longwy'. Ob das stimmte, wußten wir nicht. Auf gut Glück stiegen wir auf und gruben uns bis in Brusthöhe ins Koks, damit man uns von oben nicht so gut erkennen konnte. Zum Glück war trockenes Wetter, und es sah auch nicht nach Regen aus. Als sich der Zug in Bewegung setzte, zeigte eine Uhr am Weichenstellhaus, das ganz in der Nähe lag, kurz nach Mitternacht. Das konnten wir im Vorbeifahren sehen. Hoffentlich fuhr er in Richtung Longwy, denn von dort war es nicht mehr weit bis zum Saargebiet. Nach stundenlanger Fahrt mit Unterbrechungen durch Anhalten und warten vor Signalen, bis die Gleise frei wurden, fuhren wir im Morgengrauen durch den Bahnhof Maubeuge. Halb stehend halb sitzend waren wir ja bis zum Brustkorb im Koks eingegraben. Aber schlimmer war noch, daß bei jeder körperlichen Lageveränderung ein Koksstück in den freien Hohlraum fiel und wir nicht mehr in die ursprüngliche Sitzposition zurück konnten. Das verursachte Schmerzen, und wir waren noch lange nicht am Ziel. Aber wir wußten, daß es nun in südliche Richtung ging. Trotzdem: wie lange mußten wir das noch aushalten? Nach erneutem Anhalten auf freier Strecke hatte uns der Schlaf übermannt. Als wir wach wurden war es nach dem Sonnenstand etwa 11 Uhr und der Zug fuhr. Plötzlich sprang ein Mann im blauen Arbeitanzug über die vordere Brüstung in unseren Waggon. Gott sei Dank war er alleine. Ich sprach ihn auf Französisch an, "Was willst du hier?". Ich dachte, er sei ein Bahnarbeiter. Er antwortete auf Französisch: "Nichts - ich gehe nach Hause.". Erst dachten wir, er sei ein blinder Passagier. Aber nach einigen Worten der Unterhaltung stellten wir fest, daß er auch ein Kriegsgefangener sein mußte. Man merkte es an der Aussprache. Nun sprachen wir deutsch. Wir waren erleichtert. Er war allein, hatte nur ein kleines Stück Seife und ein Handtuch in seiner Jacke, kam aus dem Lager Mericourt Baracke 25 und arbeitete auch untertage - habe ihn aber nie im Lager gesehen, weil er eine andere Schicht hatte. Nun saßen wir alle Drei im hinteren Teil des Waggons und konnten Erfahrungen über Flucht in Kriegsgefangenschaft austauschen und waren im Geiste schon zu Hause. Und wieder hielt der Zug vor einem Signal Dann setzte er sich langsam in Bewegung und blieb vor einem Gleisdreieck stehen. Wir wußten nicht warum und blinzelten über den Waggonrand. Die Lok wurde abgehängt und fuhr langsam davon. Stunden danach kam eine andere Lok und wurde angekoppelt. Sie zog uns dann in Richtung Longwy. Am Spätnachmittag befreiten wir uns aus dem Kokssitz. Die Glieder schmerzten. Wir saßen schon mindestens zehn Stunden im Koks. Nach ein paar Lockerungsübungen war alles vergessen. Der Weg nach Deutschland wurde immer kürzer. Nun trauten wir uns auch über den Waggon zu schauen. Von oben hatten wir ein tolles Blickfeld und konnten weit sehen. Bisher hatten wir uns fast nur nach den Signalen an der Strecke orientiert, denn die waren für uns in der Sitzstellung im Koks noch sichtbar. Der Zug wurde wieder langsamer, und unser dritter Mann meinte, wir müßten bald am Ziel sein. Leider habe ich den Namen des Kumpels vergessen - schade. Dann fuhren wir durch einen Bahnhof. Man konnte auf dem Schild Longwy lesen. Im Umfeld sah alles wie eine Ortschaft aus, aber der Zug fuhr dann noch eine ganze Zeitlang weiter und wurde langsamer. Wir konnten ein leichtes Dröhnen hören und das Quietschen der Bremsen. Dann stoppte er. Wir schauten über den Rand des Waggons, der Zug stand auf einer Stahlbrücke, wo es zur einen Seite steil nach unten ging und zur anderen Seite fester Boden und einige Büsche zu sehen waren. Wir hörten Stimmen von Arbeitern, die sich an den Kokswaggons zu schaffen machten. Hier war die Entladevorrichtung für die einzelnen Wagen und wir vernahmen auch schon den brodelnden Sound des herabfallenden Kokses in ein Silo. Jeden Moment mußte unser Waggon an der Reihe sein geöffnet zu werden. Fast in Panik sprangen wir alle drei an der Seite der Gebüsche hinunter. Die Arbeiter konnten uns nicht bemerken da sie mit dem Öffnen der Luken beschäftigt waren. Hier muss ein Werk gewesen sein, das mit riesigen Öfen zu tun hatte. Vielleicht Keramik-Industrie? [ Anmerkung: es dürfte sich um die Stahl- und Hüttenwerke in Longwy gehandelt haben. Siehe Lorraine and Moselle ] Der Kumpel aus Baracke 25 war wie vom Erdboden verschwunden, und wir haben ihn auch nie wieder gesehen. Bis zur Dunkelheit blieben Heinz und ich im Gebüsch liegen, dann machten wir uns auf und gingen entlang eines Schienenstrangs in südlicher Richtung. Mit Zeitbegriff hatten wir nichts zu tun. Nach einem langen Marsch in die Nacht immer entlang der Schienen kamen wir an eine leichte Steigung. Wir legten unser Ohr auf die Schiene um zu hören, ob nicht bald ein Zug käme und in unsere Richtung fuhr. Ein Geräusch war zu vernehmen und wurde immer stärker. Dann hockten wir uns am Rande des Gleises und warteten. Der Zug - es war ein Güterzug - kam aus der Richtung in der wir über Stunden gegangen waren. Das Schnaufen der Dampflok konnten wir jetzt deutlich hören. In der Steigung wurde er langsamer, und wir hatten vor aufzuspringen. Die Wagen waren nach oben offen und vollbeladen mit Kohle. Am Anfang des vorletzten Wagens begannen wir zu rennen und erwischten die Griffe oberhalb der Stufen. Heinz den vorderen, ich den hinteren Griff des letzten Waggons. Es war geschafft. Nun saßen wir auf Kohle um abzuwarten, was passiert. Nach einiger Zeit, ca. 2 - 3 Stunden, wurde es über uns hell. Wir liefen in einen Bahnhof ein. Die Lok wurde abgehängt. Thionville konnte man auf einem Schild an einem Stellwerkhaus lesen. Wir sprangen ab und sahen auf einem anderen Gleis einen leeren Güterzug langsam anfahren. Der letzte Wagen hatte ein Bremserhaus. Da kletterten wir hinein und hörten im Vorbeifahren deutsche Stimmen. Es waren Bahnarbeiter. Die Tür des Bremserhauses hatten wir beigezogen. Circa 15 bis 20 Minuten sind wir dann in gemäßigten Tempo gefahren, bis der Zug wieder anhielt. Für uns war es eine freie Strecke, bis wir später erfahren konnten, daß es dort Busonville hieß. Jetzt vernahmen wir deutlich deutsche Stimmen und Arbeiter in der Nachtschicht, die den Zug kontrollierten. Dabei öffneten sie auch die Tür an unserem Bremserhaus. Als sie uns sahen machten sie aber gleich wieder zu und sprachen weiter in Deutsch. Daraus hörten wir, daß der Zug nach Saarlouis fuhr. Es ertönte eine Pfeifgeräusch von einem Arbeiter, und der Zug setzte sich in Bewegung. Heinz und ich umarmten uns, denn wir dachten, daß wir nun bald in Deutschland, französische Zone wären. Das Tempo des Zuges wurde immer schneller. Er fuhr mit einem Karacho, daß wir nicht mehr abspringen konnten, um zu Fuß über die Grenze zu gehen, denn die konnte ja nicht mehr weit sein. Während der Fahrt stiegen wir in den Waggon und stellten uns jeder in eine Ecke. Plötzlich bremste der Zug ab und es wurde auch schon taghell über uns. Als wir standen hörten wir von allen Seiten lautes Hundegebell. Wir legten uns flach auf den Boden, weil unser Waggon jetzt im Schatten der oberen Scheinwerfer stand. Was kommt jetzt, dachten wir. An der Frontseite unseres Waggons erblickten wir zuerst eine Taschenlampe und eine Pistole. Dann war die Mütze eines Flics zu sehen, dann er selbst. Mit auf uns gerichteter Pistole sagte er "Keine Chance, kommt runter!" Wir kletterten aus dem Waggon. Als wir unten standen, legten sie uns in Handschellen. Es waren dort mehrere Männer von der Garde-Mobile mit Hunden, die auf uns warteten. Nun konnte ich das Bahnhofsschild lesen, Hargarten-Falk. Von hier aus fuhren leere Güterzüge ins Saargebiet und kamen vollbeladen mit Kohle aus Deutschland nach Frankreich zurück. Sie wußten sofort, daß wir Kriegsgefangene waren und fragten, von wo wir getürmt seien. Wir sagten, aus den Minen im Pas de Calais (Lens). Er sagte, dahin müßt ihr wieder zurück. Dann wurden wir unter Bewachung in die Polizeikaserne der Garde Mobile nähe Thionville abtransportiert. Dort kamen wir in einen Prison, und da waren auch noch andere Kriegsgefangene, die vor der Grenze geschnappt wurden. Aber bevor wir in den Prison kamen, mußten wir zum Kommandanten der Kaserne. Das war ein Colonell der französischen Elite-Polizei, von dem ich eine harte Ohrfeige bekam weil ich meine Brieftasche nicht auf den Boden, so wie er gesagt hatte, sondern auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Nachdem er alles von uns wußte, sagte er, ihr seid dreckig wie die Schweine, wir machen eine Reinigung mit euch. Danach mußten wir in den Prison. Er hatte Recht. Das tagelange Fahren im Koks und auf Kohle gab uns das Aussehen, als wenn wir vor Kohle gearbeitet hätten. Inzwischen war es taghell, und das Treiben in der Kaserne nahm seinen gewohnten Lauf. Ein Mann der Garde Mobile holte uns, nachdem wir uns völlig nackt ausziehen mußten, vom Prison ab. Wir liefen quer über einen Hof zum Garagentrakt. In den Fenstern des u-förmigen Gebäudes lagen Frauen und Männer und machten sich über unser Aussehen lustig. Wir waren schwarz im Gesicht, alles andere war weiß. Vor der Garage stand schon ein Mann der Garde-Mobile. Er bekam von dem Mann der uns rüber brachte die Order, uns mit Wasser abzuspritzen. Er hatte einen halb Zoll Wasserschlauch in der Hand und war etwa 4 Meter von uns entfernt. Er drehte den Hahn auf, dann sagte er, "Ich spritze das Wasser in Eure Mitte". Einer stand rechts der andere links. "Versucht euch zu waschen, vor allem euer Gesicht." Zum Schluß sagte er, "Haltet eure Hände vor die Geschlechtsteile. Ich spritze euch jetzt ganz ab.", was er auch tat. Die Zuschauer an den Fenstern riefen bravo. Ich hatte das starke Gefühl, der Mann am Wasserschlauch hatte Mitleid mit uns. Dann rannten wir zurück in unser Prison, begleitet von einem der Männer, die uns bewachten. Wir zogen unsere Klamotten an. Dann bekamen wir etwas zu essen. Im Laufe des Tages füllte sich unser Prison - es war ein einfaches Zimmer, was zur Kaserne gehörte - mit noch weiteren deutschen Kriegsgefangenen, die an verschiedenen Punkten an der Grenze dieser Gegend geschnappt wurden. Ein bis zwei Tage sind wir in der Kaserne geblieben, dann wurden wir auf einem LKW zum Kriegsgefangenenlager Metz transportiert. Hier wurden wir noch einmal einer gründlichen Kontrolle unterzogen und kamen in einen Schlafsaal mit doppelstöckigen Betten und jede Menge PGs, die auch geflüchtet waren, und warteten, um von Escorten wieder in ihr Lager, aus dem sie geflüchtet waren, zurück gebracht zu werden. Einige kamen sogar per Auto und auch welche mit Motorrad mit Beiwagen aus West-Frankreich, Nantes und Bordeaux. Die mit dem Motorrad kamen aus Clermont-Ferrand, hatten amerikanische Uniformen an, aber an der Grenze auch keine Chance. Ob die PGs aus dem Westen Frankreichs auch wieder zurück mußten, weiß ich nicht genau. Wir jedenfalls, Heinz und ich, waren eine besondere Kategorie, und Depot 15b Lens Lager Mericourt wartete auf uns. Im August 1947, es waren seit Beginn unserer Flucht fast drei Wochen vergangen, kam am Vormittag ein Afrikaner in unseren Bettensaal und rief 1559 und 1564 ins Wachlokal. Dort warteten zwei marokkanische bewaffnete Posten auf uns. Sie waren aus der Wachmannschaft Mericourt. Heinz und ich wurden zusammen in Handschellen gelegt, und nun begann eine lange Fahrt mit einem Personenzug bis in den Spätnachmittag Richtung Lens Depot 15b. Unterwegs mußten wir umsteigen. Erst danach gab es von den Wachposten etwas zu Essen und zu Trinken. Von den Fahrgästen im Zug wurden wir teils mit Hab aber auch mit Mitleid angesehen. Viele dachten aber auch, wir seien Kriminelle. Die Posten ließen uns die ganze Fahrzeit stehen. Ziemlich groggi kamen wir am späten Nachmittag in Mericourt an. Das Essen im Depot Metz war über die Zeit sehr dürftig, und wir mußten auch noch arbeiten. Somit konnten wir kaum Kraft schöpfen und ermüdeten schneller als sonst. Dann gingen wir in die Baracke des Wachkommandos. Es kam der Corporal (der Sandsackboxer), wir kannten ihn, es war auch ein Marokkaner mit einem dicken Schnurrbart. Er schlug uns beide so fest auf die Brust, daß uns das Atmen verging. Dann sagte er "30 Tage Prison und 10 Galopp-Schichten", das hieß zwei Schichten hintereinander kloppen, "und Glatze, dafür daß Ihr abgehauen seid". Der Coiffeur kam in die Baracke und schnitt uns alle Kopfhaare ab. Das war meine zweite Glatze, weil ich schon einmal aus einer Papierfabrik in der Nähe Rouens geflohen war (Mai 1946). Die Prisonzellen im Lager Mericourt lagen unmittelbar neben der Baracke des Wachkommandos innerhalb des Lagers. Es waren 10 oder 15 Einzelzellen nebeneinander stehend und hatten an den Türen nur eine kleine Luke zum gucken. Über dem Boden lag Stroh. Einige Zellen waren von geflüchteten Kriegsgefangenen belegt. Heinz und ich hatten Glück und durften uns zusammen in eine Zelle legen. In der Zelle ging die Flohstecherei wieder los und wir waren froh, am nächsten Tage wieder Einfahren zu dürfen. Auf Baracke 23 hatte sich rundgesprochen, daß wir, Heinz und Jupp, geschnappt worden seien, weil von der Lagerleitung dem Barackenältesten Karl sofort Mitteilung gemacht wurde. Einigen Kumpeln war das gar nicht recht, weil sie sich unsere Bekleidung, die wir bei der Flucht zurückgelassen hatten, organisierten. Karl sorgte aber dafür, daß später wieder alles in unseren Besitz kam. Während der Zeit im Bau mußten wir sämtliche Schichten kloppen. Dabei trafen wir Kumpel, mit denen wir früher im selben Stollen gearbeitet hatten, und die uns zu Essen gaben. Sie wußten, daß im Bau Schmalhans Küchenmeister war. Den Job am Konverieur, den wir vor der Flucht hatten, waren wir los. Während der Zeit, wo wir im Prison saßen, durften wir an keiner Freizeitveranstaltung teilnehmen. In der ersten Oktoberhälfte war unsere Prisonzeit zu Ende, und wir konnten wieder auf unsere Baracke zurück. Karl gab uns auch unsere alten Betten wieder, genau so, wie wir früher gelegen hatten, und wir gingen nun auf Spätschicht. Inzwischen waren unsere Haare ein oder anderthalb Zentimeter gewachsen. Nun sahen wir schon nicht mehr aus, wie Arsch mit Ohren. Kumpeln, die Kameradendiebstahl begangen hatten, wurde mit der Haarschneide-Maschine ein sogenannter Kreuzschnitt quer über die gesamte Haartolle geschnitten. Daran erkannte man sofort Leute, die Kameraden bestohlen hatten. Außerdem mußten sie sich für einen Tag mit einem sandgefüllten Kasten, der mit einer Kordel um den Hals gehängt war, vor die Küche stellen und wurden verspottet. Eine harte aber gerechte Strafe. Kameraden-Diebstahl kam recht selten vor. Jedenfalls hatten wir durch die Flucht ein paar abwechslungsreiche Wochen und konnten während dieser Zeit mit Sicherheit bessere Luft einatmen. Das war auch der Hintergedanke bei der Flucht im Falle, daß wir geschnappt wurden. Im Oktober 1947, ich weiß nicht mehr ob es ein Goldener gewesen war, mußten wir uns erst einmal wieder zurechtfinden, um in den alten Trott zu kommen. Von zu Hause bekam ich Post von meinem Vater, der mit eiserner Energie dafür gesorgt hatte, daß er seine Familie wieder zusammen kriegte, sich in einem Trümmerhaus, es war ein acht Familien Haus, auf der letzten Etage eine Wohnung von 36 qm aufbaute, um mit seiner Frau und vier Kindern ein neues Leben zu anzufangen. Mein jüngster Bruder war acht, der nächste war elf, dann kam mein inzwischen verstorbener Bruder, der sich mit achtzehn Jahren, verloben wollte, wie mein Vater mir schrieb, aber dazu ist es nie gekommen, weil das Verhältnis zwischen den Beiden auseinanderging. Das alles konnte ich kaum fassen, da der Zeitablauf einfach an mir vorüber gegangen war. Aber es beeindruckte mich, da die damaligen Ereignisse nach dem Kriege in vielen Familien so stattgefunden hatten. So wurde der Drang nach Hause zu kommen immer stärker, vor Allem weil es auf Weihnachten zuging. Die Freizeit-Palette im Lager wurde immer besser in ihren Angeboten, auch was Sprachen anbetraf (engl. franz.). Kurz vor Weihnachten wurde gemunkelt, daß Dienstgrade der Wehrmacht entlassen würden. Damit war gemeint Unteroffiziere und Feldwebel, die bei uns im Lager waren. In unserer Baracke hatten wir einen namens Kuhnert, dessen Eltern in Wiesbaden eine Bäckerei betrieben, und unser Karl (Mädchen für alles). Er war ja Maat oder Obermaat bei der Kriegsmarine, also auch ein Dienstgrad, und wir waren alle niedergeschlagen, wenn es dann wahr würde, sie zu entlassen. Aber die Entlassungen der Dienstgrade begannen erst im Februar 1948. Wann aber kamen wir an die Reihe? Es hieß, Kriegsgefangene die schon einmal geflohen sind, kommen für eine Entlassung in nächster Zeit nicht in Frage. 1564 war zweimal, 1559 dreimal abgehauen. "Vielleicht für jede Flucht ein Jahr länger?" sickerte es so durch. Untertage malochten wir uns den Frust vom Leibe. Casser charbon pour la France! Mit einem Hintergedanken wieder erneut zu fliehen aber diesmal mit mehr Glück verging wieder einige Zeit. Mittlerweile waren unsere Haare so weit gewachsen, daß man sich einen Scheitel kämmen konnte, und damit kam auch etwas Eitelkeit auf, sodaß Heinz und ich beim Lagerfotografen vor einer Baracke ein Foto von uns machen ließen, was ich heute noch besitze. Irgendwann im Januar oder Februar 48 kam eine zivile französische Abordnung in unser Lager und machte bei uns Kriegsgefangenen eine Werbekampagne für Zivilarbeiter. Damit hätte das Kriegsgefangenen-Dasein ein Ende. Die Bedingungen hierfür waren gut. Einer aus unserer Baracke meldete sich, er hieß Otto Wörle, ein Pfälzer. Aber Heinz und ich wollten nach Hause. Wir hatten Heimweh, 'mal du pays', wie die Franzosen sagten und wollten nicht länger im Pütt bleiben. So beschlossen wir, noch einmal abzuhauen. Wir hatten ja nun schon einige Erfahrung in Sachen Flucht. Dazu kam das feste Gefühl, daß es uns diesmal gelingen würde. Mitte Mai waren wir wieder auf Achse, die gleiche Strecke wie bei der ersten Flucht. Wir kamen bis kurz vor Saargemünd, wollten dort zu Fuß über die deutsche Grenze, wurden aber in der Nacht durch ein Geballer aus Handfeuerwaffen durch die Garde-Mobile aufgehalten. Sie schossen in die Luft, wir aber dachten sie schießen auf uns und blieben mit erhobenen Händen stehen. Umgehend wurden wir an das Depot Metz ausgeliefert. Von dort ging es dann wieder mit einer Eskorte zurück nach Mericourt. Ende Mai waren wir wieder voll im Arbeitseinsatz. Unsere Haare durften wir behalten, aber dafür mußten wir in ganz niedrigen Stollen Kohle abbauen. Diese Arbeit konnte nur auf den Knien gemacht werden. Hierbei wurde mein linkes Knie in Mitleidenschaft gezogen, sodaß ich jeden Tag bei vollem Arbeitseinsatz zum Krankenrevier mußte, bis die Schwellung nachließ. Karl und Kuhnert waren jetzt schon in der Heimat. Nun wurde bekannt, daß alle deutschen Kriegsgefangenen, die in Amerika waren, auch bis Ende Juli entlassen würden, darunter war auch mein Freund Heinz (1564). Aber wir waren immer noch vor Kohle. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Kameraden mit der gleichen Maladie am Knie hatten schon einen Trick ausgearbeitet, von dem sie wußten, daß bei längerer Anwendung eine Einweisung zu einer stationären Behandlung im Krankenrevier erfolgte. Und zwar ging das so. Mit der Außenseite der Schöpfe eines Eßlöffels wurde so lange auf die geschwollene Stelle des Knies oberhalb der Kniescheibe geschlagen, bis eine grün blaue Schwellung entstand. Dann meldete man sich wieder im Krankenrevier, bekam einen elastischen Verband mit Salbe, alles ambulant, aber die Schwellung ging nicht zurück, da der Trick mit dem Löffel sogar durch den Verband Wirkung zeigte. Das habe ich immer so weiter gemacht obwohl es mit starken Schmerzen verbunden war. Als ich morgens zum Krankenrevier humpelte, in der Hoffnung ich würde nun dort stationär behandelt, sagte mir der Doktor "Pack deine Sachen du kommst ins Hospital nach Douai". Wahrscheinlich sah mein Knie auch danach aus. Meine Freude war groß, dachte ich doch, vom Hospital aus hast du vielleicht eine größere Chance, aus der Kriegsgefangenschaft entlassen zu werden. Ich verabschiedete mich von Heinz und den anderen Kumpel und wurde noch am gleichen Tag ins Hospital Central des P.G.A - 2e Region Militaire Place de Douai Caserne de Caux eingeliefert. Es war der 8.Juli 1948. Die deutsche medizinische Mannschaft im Hospital bestand aus einem Oberstabsarzt der Kriegsmarine Dr. Engels, Chirurg, einem Internisten, der auch gleichzeitig Neurologe war, einem ausgebildeten Sanitäter Namens Heinz (aus Kleve), einem Röntgenologen Karl-Heinz (aus Halle) und zwei Hilfssanitätern, einer hieß Toni (aus Trier). Ich mußte ins Bett, und mein Knie wurde nachdem ich einen Salbenverband erhalten hatte, auf ein Polster gelegt. Fast täglich kamen neue Einlieferungen von verletzten und kranken Kumpel aus den umliegenden Lagern ins Hospital Douai. Blinddarm, Knochenbrüche, Knieschwellungen usw. Heinz, der Sani, fragte mich, nachdem er wußte, daß ich aus Köln kam und schon eine Woche im Hospital war und noch keine Besserung eingetreten war, ob ich mein Knie mißhandeln würde? Ich konnte nicht sofort antworten, dann sagte er, "Willst du hier als Sani bleiben? Wir suchen jemand für die Knochenbruch-Abteilung. Wenn ja, wirst du nach drei Monaten entlassen." Ich glaube, daß er mein - Ja - nicht überhören konnte. Inzwischen hatte man an meinem Knie die Ursache der Schwellung festgestellt. Die Diagnose lautete - Infektion linkes Kniegelenk. Sofort habe ich alle Mißhandlungen unterlassen. Nach acht Tagen konnte ich nach der Behandlung mit Pennicilin und Salbenverbänden wieder ohne Schmerzen gehen. Dann war es so weit, daß ich ins Hospital-Team aufgenommen wurde. Mein Vorgänger war inzwischen aus der Gefangenschaft entlassen und mit einem Transport Sanitär in Richtung Heimat. Die Stube, die ich zugewiesen bekam, war ein Dreibett-Zimmer mit normalen Betten. Toni und Karl-Heinz waren meine Bettnachbarn. Sogar ein großer Radioapparat und Kleiderspinde waren im Zimmer. Für mich war das einfach komfortabler Luxus. Klinikkleidung wurde uns gestellt und sie wurde auch gewaschen. Über Rundfunk wurden die olympischen Spiele übertragen. Dabei hörte ich das erste Mal den Namen Zatopek. Das alles war für mich eine Art Märchen. Der Dienst begann um sechs Uhr in der Früh und endete am späten Abend, aber das war alles leicht zu ertragen im Verhältnis zum Lager Mericourt. Doktor Engels, der Chirurg, wußte, daß ich Handwerker war und beauftragte mich mit dem Schärfen der Skalpelle und den Rasuren am Unterleib der Kumpel bei entsprechenden Operationen. Sanitäter Heinz und Toni assistierten dem Doktor. Dabei war Toni der Anästhesist. Bei den meisten Operationen durfte ich zuschauen. Die Knochenbruch-Abteilung wurde von mir bestens versorgt, was Fieber messen, Medikamente, Verbände, austeilen von Lebertran usw. anbetraf. Den meisten Lebertran habe ich selbst getrunken weil ihn die Kumpels nicht mochten. Inzwischen bekam ich Post aus Deutschland. Heinz 1564 war schon einige Zeit zu Hause und drückte mir die Daumen, auch bald aus der Kriegsgefangenschaft entlassen zu werden. In der Mittagspause ging ich mit Toni in einer kleinen Halle neben der Infektions-Abteilung Tischtennis spielen. Er war ein routinierter Spieler. Von ihm habe ich viele Tricks gelernt. An den Wochenenden saßen wir meistens am Abend zusammen, um bei Weiß- oder Rotwein Gesellschaftsspiele zu machen. Natürlich ging ein gutes Essen für uns voraus. Hier hörte ich auch das erste Mal von einer Währungsreform in Deutschland, als die deutsche Mark eingeführt wurde. Oft dachte ich, hoffentlich mußt du nicht wieder zurück ins Bergwerk, denn letzten Endes war alles von dem französischen Kommandanten abhängig. Bis jetzt ging alles gut. Mitte September 1948 sagte Doktor Engels zu mir, "Ende des Monats geht ein Sanitär-Transport nach Deutschland. Du bist dabei. Wir haben schon einen Nachfolger für dich." Ich mußte trocken schlucken. "Aber bevor wir dich dem französischen Arzt vorstellen, muß Dein linkes Knie noch einmal verbunden werden, um den Anschein eines verletzten Knies vorzutäuschen." Am 21. September bekam ich von dem französischen Arzt die Bestätigung, entlassen zu werden. Das alles war mir auf den Magen geschlagen, wurde mir aber durch ein Dokument (Fiche Medical) bestätigt. Man munkelte, daß vielleicht bis Ende des Jahres das Kriegsgefangenen-Hospital aufgelöst werden sollte. Doktor Engels und das gesamte Sanitäts-Personal bewunderte und bedauerte ich gleichzeitig, weil sie bis zur vollständigen Auflösung des Hospitals noch alles abwickeln mußten, obwohl es hieß, bis Ende des Jahres 1948 seid ihr alle zu Hause. Jetzt ging alles sehr schnell. Toni gab mir eine alte Holzkiste, die vorher zum Medikamenten-Transport oder so was ähnlichem bestimmt war. Daraus machte ich mir einen handlichen Koffer 60 mal 40 mal 20 cm. Die Farbe war feldgrau. Doktor Engels kam zu mir und sagte, "gib mir deine genaue Adresse von Köln. Du mußt ein Paket für meinen Bruder mitnehmen. Er studiert an der Uni Köln. Er holt das Paket bei dir ab.", was dann auch später geschah. Am 24. September 1948 in der Morgenfrühe gingen alle nicht gehbehinderte Gefangene aus unserem Hospital mit ihrem ganzen Gepäck zum Bahnhof Douai. Dort standen schon Kumpel aus den umliegenden Lagern und warteten auf den Abtransport in die Heimat mit einem Güterzug in Richtung Sedan. Schwer- und gehbehinderte wurden mit einem Train Sanitair in die Heimat gefahren. Am Nachmittag war der Zug in Sedan. Dort kamen wir zur Abwicklung aller Entlassungs-Formalitäten in eine Kaserne und harrten der Dinge, die da kommen. Hier blieben wir eine geraume Zeit. Wir kamen in einen großen Schlafsaal mit doppelstöckigen Betten und mußten tagsüber einem Arbeitseinsatz nachgehen. Ich hatte Glück und wurde Chef d`Equipe von einer Kolonne, die aus den Soldaten-Gräbern des ersten Weltkriegs 1914/18 Knochen ausbuddeln mußten, und die dann in neu angelegte Gräber eines Heldenfriedhofs gelegt wurden, brauchte aber körperlich nicht zu arbeiten. Die Zeit verging sehr zäh. Wir wollten ja alle so schnell wie möglich nach Hause. Im Depot 24 Sedan war eine Kantine. Dort wurde einiges an Waren angeboten, unter anderem Koffer, Damenstrümpfe, Armbanduhren, Lederhandschuhe, Feuersteine, die ersten Kugelschreiber, und noch andere Sachen. Von dem Restgeld was mir dort noch ausbezahlt wurde, es waren 663.- Frs., kaufte ich einen Koffer, Damenhandschuhe, Feuersteine, Damenstrümpfe und einige Kleinigkeiten für meine Angehörigen und eine Armbanduhr. In dem Koffer konnten alle Sachen verstaut werden, auch das Paket von Doktor Engels. Am 9.10.1948 hieß es morgens in aller Frühe, "Haltet euch abrufbereit. Es geht ab nach Deutschland!" Nachdem ich ein Attest empfangen hatte, wurden die Minuten zu Stunden, obwohl zu unserem Erstaunen alles sehr schnell abgewickelt wurde. Nachdem wir etwas gefrühstückt hatten, nahmen wir unsere Klamotten und gingen in einer langen Kolonne unter Bewachung zu einem Abstellgleis. Dort standen mehrere Güterwagen, die für uns bestimmt waren, aber keine Lok davor. Nach langem Warten kam eine Lok aus Deutschland. Wir hatten durch die Heimkehrvorbereitungen nicht mitbekommen, daß in Frankreich wieder mal gestreikt wurde. Es war noch ziemlich früh als der Zug losfuhr, und zwar in Richtung Bretzenheim oberhalb Bad Kreuznach. Beim Überfahren der deutsch/französischen Grenze waren meine Gedanken und die meiner Kameraden sehr nachdenklich. Wie kann man jetzt in Freiheit leben? Kommen wir damit klar? Bretzenheim war ein Durchgangslager und wurde auch vom Roten Kreuz unterstützt. Nach einer erneuten Registrierung bekam ich Verpflegung und einen Freifahrtschein für die Bahn nach Munsterlager (Norddeutschland). Dort wurden wir am 10.10.1948 mit einem richtigen Personenzug hingefahren und wurden in das Lager geführt. Nach nochmaliger Registrierung und ärztlicher Untersuchung, die auch von amerikanischen Medizinern ausgeführt wurde, bekam ich meinen Entlassungsschein "als fit entlassen aus der deutschen Luftwaffe in die britische Zone". Unterzeichnet von einem deutschen Arzt, Dr. Med. Hans Kessler. Das waren 6 Jahre und 6 Monate meiner Jugend - OK - andere mußten ins Gras beißen. Am 11.10.1948 ging dann ein Transport nach Münster iW. Das war die Endstation für Heimkehrer in die britische Zone. Nach einer Übernachtung in einer Kaserne fuhr am 12.10.1948 ein Zug nach Köln. Unterwegs wurden wir auf den Bahnhöfen, die meistens langsam durchfahren wurden, von Schulklassen begrüßt. Sie gaben uns Bilder oder Postkarten, auf denen ihre Anschrift stand. Auf meiner Karte war ein Bild vom tapferen Schneiderlein, und auf der Rückseite stand "Ich wünsche dem lieben Heimkehrer ein frohes Wiedersehen mit seinen Lieben daheim. Margret Jung Essen West Kölnerstraße 16 Klasse 5b Berliner Schule." Das ganze war tränenrührend. Habe mich aber später nie dafür bedankt. Warum? Gegen 13 Uhr sah ich vom Zug aus den Kölner Dom. Gegen 14 Uhr klingelte ich an der Haustür. Mein kleiner Bruder öffnete durch den Türdrücker. Er erkannte mich mit meinem Gepäck und rief "Der Josef kommt" und alle kamen mir entgegen. Wir waren jetzt alle zusammen, und es wurde keiner mehr vermißt. Wir lebten mit 6 Personen 3 Jahre auf 36 qm. Das war das Ende meiner Kriegsgefangenschaft, wobei ich die längste Zeit der drei Jahre und acht Monate im Bergwerk verbrachte. Mein Freund Heinz verstarb vor zwei Jahren an Krebs. Unsere Freundschaft dauerte über 50 Jahre. © Josef Schmitz |